12.8.2009 – 15:40 Uhr
von Frank Schmidt-Hullmann
1. Der EVW als solcher ist nicht am Ende. Er soll nur rechtlich in einen gemeinnützigen e.V. umgewandelt werden. Dies hat die Mitgliederversammlung am 7. November 2008 beschlossen. Seine künftige Aufgabe soll darin bestehen, eine Lobby für Wanderarbeiter und ihre Interessen zu sein, gewerkschaftliche Organisationsbemühungen in dieser Gruppe zu fördern, Wanderarbeitern wichtige Informationen über ihre Rechte zukommen zu lassen und die nötigen Sprachbrücken zu schließen.
Dass der EVW weiterhin aktiv ist, hätten die Verfasser ohne große Recherche z.B. durch Lektüre des Spiegel Nr. 34/2008, Artikel „Wir bauen Deutschland“, oder auch im labournet feststellen können. Ein Anruf bei mir hätte ebenfalls genügt. Peter Nowak hat das getan, Berger und Meyer aber leider nicht. Wozu denn auch recherchieren, wenn lästige Fakten nur die Argumentation stören!
2. Da die IG BAU und der EVW die anderen Gewerkschaften in Deutschland sowie andere Bau-/Agrargewerkschaften in Europa (mit Ausnahme der polnischen Landarbeitergewerkschaft) nicht vom Sinn einer besonderen Gewerkschaft für Kurzzeitmigranten überzeugen konnten, hat sich das EVW-Konzept weder als Mitgliedergewerkschaft noch als gewerkschaftlicher Dachverband durchgesetzt. Die anderen Gewerkschaften wollten die Kurzzeitmigranten lieber direkt in ihrer Gewerkschaft organisieren. Sie sahen einen selbständigen Wanderarbeiterverband auch eher als eine Ausgrenzung denn als fortschrittliche Organisationsform, ein nicht ganz einfach zu widerlegendes Argument. Die IG BAU sah sich daher dazu gezwungen, die kurzzeitigen Wanderarbeiter in ihrem Bereich ebenfalls wieder direkt zu organisieren, weil eine besondere gewerkschaftliche Organisation nur dann Sinn gemacht hätte, wenn ihre dauerhafte Mitgliedschaft im EVW europaweit oder bundesweit von den anderen Gewerkschaften akzeptiert und unterstützt worden wäre. So aber entstanden für die IG BAU nur Zusatzkosten durch getrennte Organisationsstrukturen und durch Hilfe für Wanderarbeiter außerhalb des IG BAU-Bereichs, ohne dass sich die dafür nach ihrem Anspruch eigentlich zuständigen Gewerkschaften an den Kosten beteiligt hätten. Unseren EVW- und IG BAU-Anspruch, dass Wanderarbeiter über ihre Rechte überall in ihrer eigenen Sprache informiert sein sollten, haben wir aber nicht aufgegeben. Die IG BAU hat deshalb die MitarbeiterInnen des EVW – soweit sie nicht weiter beim EVW/PSPM verbleiben – übernommen und hat gemeinsam mit der Schweizer Gewerkschaft UNIA, der Europäischen Föderation EFBH sowie der Internationale der Bau- und Holzarbeiter BHI ein zunächst auf Europa und den Bau bezogenes Projekt gestartet, das den Wanderarbeitern im Internet muttersprachliche Informationen über die wichtigsten Mindestbedingungen, ihre Rechte und Adressen lokaler Ansprechpartner in allen wichtigen Zielländern liefern soll. Der EVW wird diese Aktivitäten unterstützen. Im Laufe des Jahres 2009 werden diese Informationen in Polnisch, Rumänisch und weiteren Sprachen verfügbar sein.
3. Die „Fördermitgliedschaft“ galt nur ganz am Anfang während der Gründungs- und Eintragungsphase des Verbands, als wir ständig Anpassungen der Satzung usw. vornehmen mussten, um überhaupt die Eintragung und Anerkennung als Berufsverband erreichen zu können. Auch hatten wir am Anfang noch die Befürchtung, Entsendeunternehmen könnten durch „U-Boote“ versuchen, den Verband feindlich zu übernehmen. Das stellte sich als unbegründet heraus. Dieses Konzept wurde deshalb umgehend wieder fallen gelassen und schon seit einigen Jahren war diese Passage aus der Satzung gestrichen, so dass Wanderarbeiter grundsätzlich voll stimmberechtigte Mitglieder wurden. Bereits erworbene Fördermitgliedschaften wurden in Vollmitgliedschaften umgewandelt. Wir haben danach im deutschen EVW viele polnische und rumänische Vollmitglieder organisiert, leider aber nicht genug und nicht dauerhaft genug, um eine dauerhafte eigenständige Finanzgrundlage für den EVW zu schaffen. Und Gewerkschaften sind nun einmal beitragsabhängig. Viele dieser polnischen Mitglieder sind heute je nach Situation im polnischen EVW-Schwesterverband PSPM – übrigens mit mehrheitlich polnischem Vorstand – oder der IG BAU organisiert, rumänische in der IG BAU, natürlich in beiden Fällen bei Beitragszahlung mit vollen Mitgliedschaftsrechten. Eine „Fördermitgliedschaft“ wollen wir erst jetzt im Zusammenhang mit der Umwandlung in einen gemeinnützigen Verein als Alternative zu einer Vollmitgliedschaft wieder einführen, um zusätzlich Beiträge rein finanzieller Förderer aus dem Inland zu gewinnen. Die Tür zur Vollmitgliedschaft bleibt aber für aktive Menschen weiter offen.
4. Wenn um ihren Lohn betrogene Beschäftigte mit Gewaltdrohungen ihrer kriminellen Arbeitgeber von einer Organisierung abgehalten und zur Weiterarbeit unter Hungerbedingungen angehalten werden, sind gewerkschaftliche Mittel manchmal sehr schnell erschöpft. Dann kann nur noch eine Kontrolle der Firma durch den staatlichen Repressionsapparat ein Ende dieser besonders krassen Ausbeutungssituation herbeiführen. Man muss schon im akademischen Elfenbeinturm sitzen, um auch in Menschenhandelssituationen Kontrollen immer noch völlig abzulehnen. In irgendeiner Form kriminelle in- und ausländische Arbeitgeber haben am Bau in Deutschland mittlerweile einen Marktanteil von ca. 20%. In bestimmten Unterbranchen regional auch schon einmal 60 oder 70%. Das Verbleiben dieser in- und ausländischen Gangsterfirmen auf dem Markt drückt die Löhne allgemein und vernichtet viele bessere Arbeitsplätze für neue Migranten ebenso wie für die bereits hier ansässigen Bauarbeiter aller Nationalitäten. Nur durch Strafverfolgung der kriminellen Unternehmer kann diese Unternehmergruppe stückweise aus dem Markt gedrängt werden. Ausländische Beschäftigte werden teilweise durch gezielte Täuschung, unbewusste Verstrickung in Scheinselbständigkeit und Zwang zum Unterschreiben von Blankobögen vor ihrer Abreise in Erpressungssituationen gebracht, aus denen sie nicht wieder herauskommen können. Bei inländischen Arbeitern wird der Lohn vor dem Hintergrund hoher Bauarbeitslosigkeit durch massive Kündigungsdrohungen und Angst vor Hartz 4 vom Tariflohn auf den Mindestlohn und danach vom Mindestlohn weiter runter gedrückt. Auch sie werden immer häufiger zur Mitwirkung beim Sozialleistungsbetrug angehalten, wie z.B. die unzähligen angeblichen Teilzeitjobs mit Aufstockung am Bau in Berlin beweisen, und damit mundtot und zum unfreiwilligen Komplizen ihrer Chefs gemacht. Bei der nach wie vor hohen Bauarbeitslosigkeit ist die Bereitschaft der Betroffenen zur aktiven Gegenwehr leider auch nicht groß genug, um das schnell zu ändern. Folge: prekäre Arbeit in jeder Form nimmt immer mehr zu, denn Betriebe mit „guter Arbeit“ verlieren im kapitalistischen Wettbewerb immer häufiger den Preiskampf und die Kampfbereitschaft sinkt dadurch noch weiter. Zynisch ist da der Spruch der Verfasser, zum Verzichten bräuchten die Arbeiter keine Gewerkschaft, zu nennen. Mit gewerkschaftlichen Appellen und Aktionen allein bekommen wir diese Massensituation – wir reden hier über viele tausend Firmen – nicht wieder in den Griff. Wir lehnen deshalb Baustellenkontrollen nicht grundsätzlich ab, wenn sie sich ebenso systematisch gegen Inlandsfirmen richten. Das ist in der Realität in aller Regel der Fall und mit Rassismus hat die Praxis der meisten FKS-Kontrolleure nichts zu tun. Sie wissen aus ihrer Praxis ja sehr genau, dass es fast immer hiesige Unternehmer sind, die das ganze Ausbeutungssystem organisieren, und ausländische Kollegen häufig diejenigen sind, die besonders brutal ausgebeutet werden. Es ist auch nicht die Schuld der FKS-Kontrolleure, dass sie nicht vorrangig als Arbeitsinspektoren gegenüber den Arbeitgebern eingesetzt werden, wie das in anderen Ländern üblich ist und wie das von uns seit langem gefordert wird.
5. Wer sich andererseits gegen alle Kontrollen am Bau nur deshalb ausspricht, um den Migranten ohne legalen Arbeitsberechtigungsstatus eine möglichst unbehinderte Beschäftigungsmöglichkeit zu verschaffen, sollte uns gleichzeitig ein realistisches Konzept für den Kampf gegen Tausende krimineller Extremausbeuter liefern, will er sich nicht dem Vorwurf aussetzen, ungewollt die Geschäfte von Gangsterfirmen zu schützen. Ein solches realistisches Konzept hat uns bisher niemand liefern können. Das vermeintliche Allheilmittel „Legalisierung der Papierlosen“ – so sinnvoll diese aus anderen Gründen ist – hilft jedenfalls nicht langfristig, sie finden sich nämlich unmittelbar nach der Legalisierung auf der Strasse wieder, weil ihre vormaligen Arbeitgeber eben nicht auf die 40 – 50% Profit verzichten wollen, die am Bau nur durch Einsatz krimineller Methoden erzielbar sind; was sollen sie also mit jetzt legal zu bezahlenden und voll sozial zu versichernden Beschäftigten? Dann müssten sie ja selbst Steuern zahlen usw. Also wird den frisch Legalisierten „Schwarzarbeit“ angeboten oder sie werden durch Neuankömmlinge ersetzt. Es sind eben in der Regel ja nicht gute Menschen, die Menschen ohne Papiere aus Mitleid beschäftigen, sondern meistens Typen, die extreme Profite machen und legal deshalb niemand beschäftigen wollen. Wenn und sobald ein realistisches Alternativkonzept vorläge, wären wir wohl die Ersten, die es umsetzen würden. Bis dahin hilft uns und den meisten Opfern krimineller Ausbeutungsmethoden ein Pawlow’scher linker Reflex gegen alles, was entfernt nach Polizei riecht, leider überhaupt nicht weiter.
6. Ich kann und will mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass der ehemalige EVW-Generalsekretär Matthias Kirchner tatsächlich solche Äußerungen gemacht haben soll, wie sie ihm der Artikel in wörtlichen „Zitaten“ unterstellt. Solche Äußerungen entsprächen auch in keiner Weise dem Ziel des EVW, der ja die Aufgabe hatte, die polnischen Wanderarbeiter hier gewerkschaftlich zu organisieren und ihnen bessere Löhne bei der Arbeit in Deutschland zu verschaffen. Ich kann mir schon deshalb nicht vorstellen, dass der damalige Generalsekretär eine seiner Hauptzielgruppen z.B. als „Billigpolen“ bezeichnet hätte. Wenn eine solche Äußerung je gefallen sein sollte, hätte ich dafür keinerlei Verständnis. Bis zum Beweis des Gegenteils glaube ich aber den Verfassern ihre Zitate nicht, denn der Artikel zeichnet sich ja auch sonst durch einen recht lockeren Umgang mit Fakten aus.
7. Es ist schon böswillig zu nennen, wenn das XENOS-Projekt der IG BAU (in welchem Rainer Berger übrigens einmal beschäftigt war) von den Verfassern nicht einmal erwähnt wird. Die IG BAU hat neben Drittmitteln erhebliche Eigenmittel in die Bekämpfung des Rassismus und in die Aufklärung der Baubeschäftigten über die wahren Ursachen des Lohndumpings, das Zusammenwirken von profitgierigen hiesigen Unternehmern mit ebenso profitgierigen Dumpingsubunternehmern aus Deutschland und dem Ausland auf dem Rücken der Beschäftigten – egal ob Wanderarbeiter oder hier ansässig – gesteckt. Wir haben immer wieder betont – und dazu stehen wir -, dass nicht die Wanderarbeiter schuld an dem auch auf ihrem Rücken betriebenen Lohndumping sind. EVW und IG BAU haben bereits vielen scheinselbständigen und entsandten Wanderarbeitern ohne Rücksicht auf ihren aufenthaltsrechtlichen Status durch direkten Druck auf die hiesigen Generalunternehmer und Auftraggeber zumindest einen erheblichen Teil der ihnen vorenthaltenen Löhne verschafft. Allein in diesem Jahr waren dies bereits mehrere hunderttausend €. Das setzen wir weiter fort.
8. Passagen im Artikel wie „Wer von den mehr als 100 Hauptamtlichen, um die der Apparat bis Ende 2008 weiter verkleinert werden soll, nicht in Altersteilzeitregelungen eingewilligt hat, muss mit einer betriebsbedingten Kündigung rechnen. Gewerkschaftsfunktionäre in Ausbildung können sich schon länger nicht mehr auf eine Übernahmegarantie verlassen und beginnen ihre Laufbahn im besten Fall mit niedrigeren Einstiegsgehältern.“ haben mit der eigentlichen – oder doch nur angeblichen? – Thematik EVW nichts zu tun, vielleicht aber mit Betroffenheit über gesunkene Beschäftigungschancen im hauptamtlichen Gewerkschaftsapparat. Die Verfasser schreiben der IG BAU selbst die Alleinschuld am Mitgliederrückgang zu, ohne auch nur zu erwähnen, dass sich die Beschäftigtenzahl am Bau zwischen 1995 und 2007 glatt halbiert hat und in der Gebäudereinigung viele Vollzeitjobs in 400-Euro-Jobs umgewandelt wurden. Berger und Meyer sagen uns auch nicht, wie die IG BAU auf den daraus resultierenden drastischen Mitgliederrückgang und den Beitragsverfall infolge zunehmender Prekarisierung in unseren Branchen anders hätte reagieren sollen. Hätte sie etwa die Beiträge im Interesse des Hauptamtlichenapparats drastisch erhöhen sollen, um den Beschäftigtenstand unverändert halten zu können? Denn die Gehälter wurden schon zeitweise deutlich abgesenkt, um noch möglichst viel Personal halten zu können. Und kann sich eine Gebäudereinigerin oder ein Bauarbeiter eine solche drastische Beitragserhöhung überhaupt leisten oder hätte eine solche Beitragserhöhung nicht viele zusätzliche Austritte produziert? Ich bin mir sicher, die Verfasser hätten dann über eine Selbstbedienungsmentalität der Hauptamtlichen geschimpft. Ja, die IG BAU ist in einer schwierigen Situation. Das organizing-Konzept könnte aber dazu beitragen, mittelfristig aus dieser Situation gestärkt herauszukommen. Gestärkt auch, was die Aktivierung der Mitgliedschaft anbelangt. Was stört Berger und Meyer eigentlich daran? Sähen sie uns lieber untergehen? Und was wäre dann?
9. Man kann die IG BAU dafür kritisieren, dass sie lange – vielleicht auch etwas zu lange – gebraucht hat, um Wege zu finden, wie die Interessen von hiesigen Beschäftigten aller Nationalitäten und von neuen Wanderarbeitern halbwegs unter einen Hut zu bringen sind. Man kann sie auch dafür kritisieren, dass ihr dabei am Anfang vielleicht nicht alles gelungen ist und auch manchmal falsche Töne angeschlagen wurden. Aber Fakt ist doch auch, dass wir diejenige Gewerkschaft in Deutschland sind, die als erste mit ihren allgemein verbindlichen tariflichen Branchenmindestlöhnen eine unterste Grenze für durchsetzbare und einklagbare Lohnansprüche aller Beschäftigten, also auch der prekär beschäftigten Wanderarbeiter, in fast allen ihren Branchen geschaffen hat, die als erste ein neues Konzept zur Organisation der Wanderarbeiter vorgelegt hat und die trotz Rückschlägen nach wie vor an der aktiven Organisierung dieser Beschäftigtengruppe festhält, statt nur schöne Worte zu machen. Den Verfassern rufe ich deshalb zu: macht es doch einfach besser, aber macht endlich einmal selbst irgendetwas! Wanderarbeiter brauchen jede echte Hilfe, die sie hier bekommen können, um aus der Rechtlosigkeit und Extremausbeutung heraus zu kommen, aber bestimmt nicht Eure altklugen „Analysen“ und Sprüche! gez. i.A. Frank Schmidt-Hullmann Leiter der Abteilung Internationales und Europäische Baupolitik Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) und ehrenamtlicher Mitarbeiter im EVW Richtigstellung vom 11.11.08. Die Zusendung an das LabourNet Germany richtet sich v.a. gegen den von uns übernommenen Beitrag: Neues im Anti-Dumping-Kampf: Der Europäische Verband der Wanderarbeiter ist am Ende Artikel von Rainer Berger und Malte Meyer, zuerst erschienen in ak – zeitung für linke debatte und praxis / Nr. 531 / 31.9.2008
Weiterführender Link: http://www.labournet.de/diskussion/gewerkschaft/real/evw_sh.html