13.10.2004 – 13:20 Uhr
von „N24“, 09.09.04
Seit vier Stunden steht Artur an der Hanauer Landstraße und wartet auf Kundschaft. 28 Jahre ist er alt und vor zwei Wochen aus Breslau nach Frankfurt gekommen. Die Sonne scheint. Und er hat immerhin ein altes Damenrad, an das er sich lehnen kann. Trotzdem sinkt der Mut. „Den letzten Job hatte ich am Sonntag“, sagt er auf Englisch. Vier Tage ist es her.
Artur ist einer von 300.000 Ausländern, die nach Gewerkschaftsschätzungen illegal in Deutschland arbeiten. Und einer von vielleicht 40 Männern, die an diesem Donnerstag vor der Großmarkthalle „anschaffen“, ihre Arbeitskraft anbieten. „Polenstrich“ heißt die Institution, aber schon lange versuchen hier auch Tagelöhner aus der Slowakei, aus Rumänien oder der Ukraine ihr Glück. Je weiter östlich das Heimatland, desto geringer der Stundenlohn. Weißrussen arbeiten ab 80 Cent.
Am Wochenende war Mainuferfest mit dutzenden Buden und Karussells. „Ein Portugiese hat uns dann am Sonntag geholt“, berichtet Artur. „Gerüste zusammenbauen und auf Lastwagen laden. Es gab sechs Euro pro Stunde.“ Er dreht sich eine Zigarette, sein Freund gibt ihm Feuer. Lastwagen donnern vorbei, die Zeit steht still. In den letzten Nächten hat Artur in einem Autowrack mit ausgebauten Sitzen geschlafen. Manchmal trifft er einen Polen mit eigener Wohnung, der ihm ein Bett leiht.
Zwei von Arturs Kumpeln wollen in die Niederlande. „Ich bleib erstmal in Frankfurt, da kenn ich mich aus,“ sagt er. Ein Mann drückte ihm kurz nach der Einreise einen Stadtplan mit nützlichen Adressen in die Hand: eine Suppenküche der Caritas, eine billige Reinigung, ein Schwimmbad zum duschen. Der Plan steckt immer in seiner ausgebeulten Hosentasche. Sehnsucht nach Polen hat Artur noch nicht, auch seine Mutter klang am Telefon zuletzt eher gleichgültig. Wenn er in den kommenden Tagen gut verdient, will er am Bahnhof fragen, was eine Fahrkarte nach Spanien kostet.
Traum vom dicken Portemonnaie
Ein schwarzer Mercedes fährt plötzlich halb auf den Bürgersteig. Hinterm Steuer ein fettleibiger Mann mit dicker, goldener Uhr. Er lässt das Fenster an der Beifahrerseite runtersurren, Artur und sein Freund schlendern heran. „Irgendwas mit dem Wagen stimmt nicht“, sagt der Mann auf Englisch. „Könnt ihr das reparieren?“ Der potenzielle Arbeitgeber ist den beiden Polen nicht geheuer. Der Mercedes sieht sehr teuer aus, auf der Rückbank liegen mehrere Autoschilder. Artur und sein Freund winken ab, sie sind keine Mechaniker. Der Fahrer gibt Vollgas und rast zur nächsten Gruppe Schwarzarbeiter.
Ein neues Auto, damit würde sich Artur zurück nach Breslau trauen. „Und neue Klamotten und ein dickes Portemonaie.“ Das sind die Fernziele. Zunächst träumt er von einem Job für mehrere Monate.
Der Großteil der illegal in Deutschland beschäftigen Ausländer arbeitet auf Baustellen. Schon die 22.000 „Entsendearbeiter“ mit regulären Zeitverträgen hätten es schwer, sagt Matthias Kirchner, Geschäftsführer des neu gegründeten IG-Bau-Verbandes für Wanderarbeiter. Sie seien in Containern kaserniert, und zwischen den Angehörigen verschiedener Religionen und Nationalitäten gebe es Spannungen. Hinzu komme die Trennung von den Familien.
Integration findet nicht mehr statt
Am 10. September vor 40 Jahren wurde der einmillionste Gastarbeiter in Köln-Deutz mit einer Zündapp belohnt. Die Arbeitskräfte aus den südeuropäischen Ländern waren auch als Menschen willkommen. Doch anders als in den 50er und 60er Jahren „findet eine Integration in die deutsche Gesellschaft heute nicht mehr statt“, konstatiert Kirchner.
Das zusätzliche Problem der Schwarzarbeiter: Sie sind ihren Auftraggebern ausgeliefert. Wird ein ausgehandelter Lohn nicht gezahlt, bleiben sie ebenso ohne Hilfe wie bei Krankheiten oder Verletzungen. Ähnlich machtlos sind allerdings die Zollbeamte, wollen sie gegen illegale Jobbörsen vorgehen. „Wenn die Polizei kommt, gehen wir auf die andere Straßenseite“, sagt Artur. „Seit der EU-Erweiterung dürfen wir hier leben.“
Seit zwei Monaten an Bord der ‚Deutschland‘
Offene Schwarzarbeiter-Szenen gibt es auch in Berlin und einigen Ruhrgebietsstädten. Eine Tradition wie die Hanauer Landstraße haben die wenigsten. Der Frankfurter „Polenstrich“ erstreckt sich über rund 200 Meter von der Großmarkthalle bis zur Volvo-Niederlassung stadtauswärts.
Dort hockt Bohus vor einem Plakat für Kreuzfahrten. „Entdecken Sie Amerika“, steht über einem weißen Luxusliner. „Kommen Sie an Bord der ‚Deutschland‘.“ Seit zwei Monaten ist der 36 Jahre alte Slowake jetzt an Bord, vor zwei Monaten verabschiedete er sich im Karpatenstädchen Bardejov von seiner Frau und seinen beiden Söhnen, vier und zwölf Jahre alt. In Bardejov hat er ein Haus, das Dach ist kaputt.
Im ersten Monat verdiente Bohus 300 Euro, als Dachdecker, Möbelpacker, Anstreicher. Die selben Leistungen bieten Handwerksbetriebe an, nur nicht für fünf Euro die Stunde. Ihnen macht die Schwarzarbeit besonders zu schaffen und sie fordern von den Behörden ein härteres Vorgehen gegen die Auftraggeber. Der gesetzliche Schutz von Privatgrundstücken mache das fast unmöglich, beteuert man im Frankfurter Arbeitsamt.
Bohus musste die Hälfte seines Lohnes für ein kleines Zimmer abdrücken, das er sich mit zwei Kollegen teilt. „In der Heimat gibt es keine Arbeit, schon gar nicht auf dem Land“, erzählt er in gebrochenem Deutsch. Er hat einen Lockenschopf und dunkelbraune Augen. In der Hand hält er eine Aldi-Tüte, darin ein Handtuch und eine Packung Tabak. Besonders der ältere Sohn sehne seine Rückkehr herbei. „Damit wir zusammen Playstation spielen können.“ Daraus wird erstmal nichts. Wenn es in den kommenden Wochen in Deutschland keine Jobs gibt, will Bohus zwei Landsleuten folgen. Die haben gerade Arbeit in Irland gefunden.